Manfred Wolke – Nachruf
Besessen war er, ja regelrecht verrückt. Ein Verrückter vom sympathischen schlage, der am Boxsport einen Narren gefressen hatte. Nach dem Faustkampf richtete er seit der Jugend sein Leben aus. Wenn er ins Seilquadrat stieg, wollte er siegen – und das immer.
Was Manfred Wolke als Sportler und Trainer geleistet hat, wird hierzulande vermutlich einmalig bleiben. Niemand aus seiner Zunft kann von sich behaupten, nach selbst erkämpfendem Olympiagold auch eigene Olympiasieger hervorgebracht zu haben. Zudem stellte er den ersten deutschen Weltmeister bei den Amateuren und löste mit seinem Wechsel zu den Profis nach dem Fall der Mauer einen Boxboom aus, von dem heute nur geträumt werden kann. Wenn einer den Status einer Legende verdient, dann Manfred Wolke.
Mit der Schule nahm es der wieselflinke Bursche aus der Filmstadt Babelsberg nicht so genau. Lieber traf sich der Jüngste von zehn Geschwistern mit Klassenkameraden zum Knödeln auf dem Bolzplatz, eine Leidenschaft, die ihn bis ins hohe Alter nicht losließ. Wer weiß, hätten die Kinder von Turbine Potsdam seinerzeit nicht nur einmal in der Woche trainiert, wäre aus ihm vielleicht ein ostdeutscher Uwe Seeler geworden. Ambitionen zum Boxen hatte der schmächtige Lausbub dazumal noch nicht.
Dafür bedurfte es des Zufalls. Eines Abends pirschte er in die Halle, in der die Amateurboxer aus Babelsberg trainierten, um von dort drei Mitspieler seiner Mannschaft zurückzuholen. Sie hatten ihre Töppen gegen lederne Fäustlinge getauscht. Als er in den Übungsraum kam, standen seine Kumpel schon unter der Dusche. Erstaunt musterte er die herumhängenden Sandsäcke und Maisbirnen. Aus Gaudi haute er dagegen, als ihn plötzlich jemand fragte: „Warst du schon mal hier zum Training? Ich kenne dich doch gar nicht.“ „Nein, nein“, entgegnete der damals 16-Jährige erschrocken. Er warte nur auf seine Freunde.
„Willst du es nicht mal mit den Boxen versuchen? Für dein Gewicht bist du doch ganz schön groß“, hakte der Unbekannte nach, woraufhin der Teenager schelmisch antwortete: „Aber dafür bin ich so spack, dass ich unter der Dusche hin- und herspringen muss, um nass zu werden.“ Der Erwachsene ließ nicht locker, erzählte, wie vielseitig und abwechslungsreich die Ausbildung eines Boxers ist. Und dass sie auch Fußballspielen. Damit traf der Fremde, es war Martin Neef, der heute 90 Jahre alte Boxlehrer, den Nerv des neugierigen Juniors, für den er zur Trainer-Vater-Figur wird, nachdem dieser seinen leiblichen Vater im Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Bedingungslos stellte sich der angehende Lokomotivschlosser den von Übungsleiter Neef geforderten Belastungen. Er schonte sich nie. Zumeist quälte er sich mehr, als es von ihm verlangt wurde. „Kondition ist die Grundlage für den Erfolg“, lautete Wolkes stete Maxime, für die er 1968 als Weltergewichtler in der Höhe von Mexiko City mit olympischem Gold belohnt wurde.
Als der DDR-Vorzeigeathlet vier Jahre später in München seinen Triumph wiederholen wollte, wurde er von einer Verletzung an der Augenbraue ausgebremst. Gegen den späteren Olympiasieger Emilio Correa aus Kuba führte er klar nach Punkten, als der Ringrichter in Runde zwei das Stoppzeichen setzte. Dass er sechs Tage zuvor bei der Eröffnungsfeier der Sommerspiele deutsche Sportgeschichte geschrieben hatte, indem er die DDR-Mannschaft, die erstmals eigenständig startete, als Fahnenträger ins Olympiastadion führte, konnte ihn über sein Ausscheiden nicht hinwegtrösten.
Seinen Silbermedaillen von den Europameisterschaften 1967 und 1971 hätte Wolke, der 236 seiner 258 Amateurkämpfe gewann, gerne noch den Kontinentaltitel hinzugefügt. Es sollte nicht sein. Stattdessen wechselte er als Sportoffizier beim ASK Vorwärts Frankfurt/Oder nahtlos in den Trainerberuf. Wobei der angehende Diplom-Sportwissenschaftler auf Langfristigkeit setzte. Wer mindestens zwei Jahre die edle Kunst des Faustkampfes von ihm vermittelt bekam, durfte sich des ruhmreichen Lohns für die hingebungsvolle Schinderei fast sicher sein.
Federgewichtler Rudi Fink 1980 und Henry Maske im Mittelgewicht acht Jahre später führte er zum Olympiasieg. Im Oktober 1989 stand Primus Maske als erster deutscher Boxer bei einem Weltchampionat der Amateure auf dem obersten Treppchen. 23 Medaillen sicherten sich Wolkes Zöglinge bei Olympischen Spielen, WM- und EM-Titelkämpfen.
Als Wolke nach der Wende den Entschluss fasste, mit Maske und Axel Schulz sein Glück bei den Preisboxern unter Promotor Wilfried Sauerland zu versuchen, wurde er vielfach belächelt. Der eigensinnige Protagonist jedoch, der wegen seines breiten Brandenburger Dialekts („Janz ruhig Henry, et läuft“) oft parodiert wurde, zweifelte keine Sekunde an der Richtigkeit seiner Entscheidung, die am 8. März 1990 in Berlin von ihm und Maske mit der Vertragsunterzeichnung bei Sauerland eingeläutet wurde. „Wir haben immer wie Profis trainiert. Warum sollten wir sie nicht auch im Ring besiegen?“, hielt er den Skeptikern entgegen und behielt recht.
Maske verteidigte zehnmal seinen 1993 erkämpften WM-Titel, Schulz hält seit 29 Jahren den TV-Quotenrekord. 18,03 Millionen Zuschauer saßen vor den Bildschirmen, als der Schwergewichtler seinen WM-Kampf gegen den Südafrikaner Francois Botha verlor. Es war eine Niederlage, die Wolke nie verschmerzte, galt doch Schulz als designierter Nachfolger von Max Schmeling, dem einzigen deutschen Champion in der Königsklasse.
Wenn sich Wolke etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es auch durch. „So war ‚Manne‘ immer. Er war nicht zu stoppen und zu toppen“, erkennt Ulli Wegner, seit den 70er-Jahren dessen Trainerkollege, neidlos an. „Wir schauten alle zu ihm auf. Wir bewunderten seinen Mut, als er mit Henry nach der Wende als Erster von den Ossis zu den Profis wechselte. Alle rieten ihm davon ab. Niemand, außer ‚Manne‘ selbst, hatte es für möglich gehalten, dass er mit einem wie Maske auch in der Welt des verruchten Berufsboxen alle aufmischen würde.“
Was andere über ihn dachten, war Wolke stets egal. Er glaubte an sich und seine Trainingsmethoden, dass man mit eiserner Disziplin, Intelligenz, immensem Fleiß und extremer Härte gegen sich selbst alles erreichen kann. Am 17. Oktober 2009 stand er in der Arena am Berliner Ostbahnhof letztmalig als Coach in einer Ringecke.
Einen großen Auftritt hatte Wolke danach noch. Als Maske 2012 in Berlin mit der „Goldenen Sportpyramide“ für sein Lebenswerk geehrt wurde, holte er seinen Trainer auf die Bühne und schenkte ihm aus Dankbarkeit die Trophäe. „Wenn sie einer verdient, dann Herr Wolke“, begründete der „Gentleman“ seine ehrfurchtsvolle Geste. „Er ist der Feingeist des Boxsports. Er hat mit mir den roten Teppich für das professionelle Boxen ausgerollt.“
Mittlerweile ist dieser fast wieder eingerollt, zum großen Leidwesen von Wolke: „Es ist ein Jammer, wie das Boxen bei uns runtergewirtschaftet wurde“, beklagte sich der Vater von drei Kindern von einiger Zeit in der WELT. „Nichts von dem, was ich mit meinen Jungs aufgebaut habe, ist mehr da. Wir stehen wieder dort, wo ich 1990 angefangen habe.“
Seit geraumer Zeit war es ruhig um Wolke geworden. Zuletzt kämpfte der Beckenbauer des Boxsports gegen gesundheitliche Malaisen. Sein bis zur Selbstzerstörung neigender Ehrgeiz werde ihn bis ins Grab verfolgen, beteuerte er einst. Das „Box-Genie“, wie Maske seinen Trainer betitelte, ist am 29. Mai im Alter von 81 Jahren nach langer Krankheit in seiner Heimatstadt an der Oder im Kreise seiner Familie gestorben.
Was Manfred Wolke als Sportler und Trainer geleistet hat, wird hierzulande vermutlich einmalig bleiben. Niemand aus seiner Zunft kann von sich behaupten, nach selbst erkämpfendem Olympiagold auch eigene Olympiasieger hervorgebracht zu haben. Zudem stellte er den ersten deutschen Weltmeister bei den Amateuren und löste mit seinem Wechsel zu den Profis nach dem Fall der Mauer einen Boxboom aus, von dem heute nur geträumt werden kann. Wenn einer den Status einer Legende verdient, dann Manfred Wolke.
Mit der Schule nahm es der wieselflinke Bursche aus der Filmstadt Babelsberg nicht so genau. Lieber traf sich der Jüngste von zehn Geschwistern mit Klassenkameraden zum Knödeln auf dem Bolzplatz, eine Leidenschaft, die ihn bis ins hohe Alter nicht losließ. Wer weiß, hätten die Kinder von Turbine Potsdam seinerzeit nicht nur einmal in der Woche trainiert, wäre aus ihm vielleicht ein ostdeutscher Uwe Seeler geworden. Ambitionen zum Boxen hatte der schmächtige Lausbub dazumal noch nicht.
Dafür bedurfte es des Zufalls. Eines Abends pirschte er in die Halle, in der die Amateurboxer aus Babelsberg trainierten, um von dort drei Mitspieler seiner Mannschaft zurückzuholen. Sie hatten ihre Töppen gegen lederne Fäustlinge getauscht. Als er in den Übungsraum kam, standen seine Kumpel schon unter der Dusche. Erstaunt musterte er die herumhängenden Sandsäcke und Maisbirnen. Aus Gaudi haute er dagegen, als ihn plötzlich jemand fragte: „Warst du schon mal hier zum Training? Ich kenne dich doch gar nicht.“ „Nein, nein“, entgegnete der damals 16-Jährige erschrocken. Er warte nur auf seine Freunde.
„Willst du es nicht mal mit den Boxen versuchen? Für dein Gewicht bist du doch ganz schön groß“, hakte der Unbekannte nach, woraufhin der Teenager schelmisch antwortete: „Aber dafür bin ich so spack, dass ich unter der Dusche hin- und herspringen muss, um nass zu werden.“ Der Erwachsene ließ nicht locker, erzählte, wie vielseitig und abwechslungsreich die Ausbildung eines Boxers ist. Und dass sie auch Fußballspielen. Damit traf der Fremde, es war Martin Neef, der heute 90 Jahre alte Boxlehrer, den Nerv des neugierigen Juniors, für den er zur Trainer-Vater-Figur wird, nachdem dieser seinen leiblichen Vater im Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Bedingungslos stellte sich der angehende Lokomotivschlosser den von Übungsleiter Neef geforderten Belastungen. Er schonte sich nie. Zumeist quälte er sich mehr, als es von ihm verlangt wurde. „Kondition ist die Grundlage für den Erfolg“, lautete Wolkes stete Maxime, für die er 1968 als Weltergewichtler in der Höhe von Mexiko City mit olympischem Gold belohnt wurde.
Als der DDR-Vorzeigeathlet vier Jahre später in München seinen Triumph wiederholen wollte, wurde er von einer Verletzung an der Augenbraue ausgebremst. Gegen den späteren Olympiasieger Emilio Correa aus Kuba führte er klar nach Punkten, als der Ringrichter in Runde zwei das Stoppzeichen setzte. Dass er sechs Tage zuvor bei der Eröffnungsfeier der Sommerspiele deutsche Sportgeschichte geschrieben hatte, indem er die DDR-Mannschaft, die erstmals eigenständig startete, als Fahnenträger ins Olympiastadion führte, konnte ihn über sein Ausscheiden nicht hinwegtrösten.
Seinen Silbermedaillen von den Europameisterschaften 1967 und 1971 hätte Wolke, der 236 seiner 258 Amateurkämpfe gewann, gerne noch den Kontinentaltitel hinzugefügt. Es sollte nicht sein. Stattdessen wechselte er als Sportoffizier beim ASK Vorwärts Frankfurt/Oder nahtlos in den Trainerberuf. Wobei der angehende Diplom-Sportwissenschaftler auf Langfristigkeit setzte. Wer mindestens zwei Jahre die edle Kunst des Faustkampfes von ihm vermittelt bekam, durfte sich des ruhmreichen Lohns für die hingebungsvolle Schinderei fast sicher sein.
Federgewichtler Rudi Fink 1980 und Henry Maske im Mittelgewicht acht Jahre später führte er zum Olympiasieg. Im Oktober 1989 stand Primus Maske als erster deutscher Boxer bei einem Weltchampionat der Amateure auf dem obersten Treppchen. 23 Medaillen sicherten sich Wolkes Zöglinge bei Olympischen Spielen, WM- und EM-Titelkämpfen.
Als Wolke nach der Wende den Entschluss fasste, mit Maske und Axel Schulz sein Glück bei den Preisboxern unter Promotor Wilfried Sauerland zu versuchen, wurde er vielfach belächelt. Der eigensinnige Protagonist jedoch, der wegen seines breiten Brandenburger Dialekts („Janz ruhig Henry, et läuft“) oft parodiert wurde, zweifelte keine Sekunde an der Richtigkeit seiner Entscheidung, die am 8. März 1990 in Berlin von ihm und Maske mit der Vertragsunterzeichnung bei Sauerland eingeläutet wurde. „Wir haben immer wie Profis trainiert. Warum sollten wir sie nicht auch im Ring besiegen?“, hielt er den Skeptikern entgegen und behielt recht.
Maske verteidigte zehnmal seinen 1993 erkämpften WM-Titel, Schulz hält seit 29 Jahren den TV-Quotenrekord. 18,03 Millionen Zuschauer saßen vor den Bildschirmen, als der Schwergewichtler seinen WM-Kampf gegen den Südafrikaner Francois Botha verlor. Es war eine Niederlage, die Wolke nie verschmerzte, galt doch Schulz als designierter Nachfolger von Max Schmeling, dem einzigen deutschen Champion in der Königsklasse.
Wenn sich Wolke etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es auch durch. „So war ‚Manne‘ immer. Er war nicht zu stoppen und zu toppen“, erkennt Ulli Wegner, seit den 70er-Jahren dessen Trainerkollege, neidlos an. „Wir schauten alle zu ihm auf. Wir bewunderten seinen Mut, als er mit Henry nach der Wende als Erster von den Ossis zu den Profis wechselte. Alle rieten ihm davon ab. Niemand, außer ‚Manne‘ selbst, hatte es für möglich gehalten, dass er mit einem wie Maske auch in der Welt des verruchten Berufsboxen alle aufmischen würde.“
Was andere über ihn dachten, war Wolke stets egal. Er glaubte an sich und seine Trainingsmethoden, dass man mit eiserner Disziplin, Intelligenz, immensem Fleiß und extremer Härte gegen sich selbst alles erreichen kann. Am 17. Oktober 2009 stand er in der Arena am Berliner Ostbahnhof letztmalig als Coach in einer Ringecke.
Einen großen Auftritt hatte Wolke danach noch. Als Maske 2012 in Berlin mit der „Goldenen Sportpyramide“ für sein Lebenswerk geehrt wurde, holte er seinen Trainer auf die Bühne und schenkte ihm aus Dankbarkeit die Trophäe. „Wenn sie einer verdient, dann Herr Wolke“, begründete der „Gentleman“ seine ehrfurchtsvolle Geste. „Er ist der Feingeist des Boxsports. Er hat mit mir den roten Teppich für das professionelle Boxen ausgerollt.“
Mittlerweile ist dieser fast wieder eingerollt, zum großen Leidwesen von Wolke: „Es ist ein Jammer, wie das Boxen bei uns runtergewirtschaftet wurde“, beklagte sich der Vater von drei Kindern von einiger Zeit in der WELT. „Nichts von dem, was ich mit meinen Jungs aufgebaut habe, ist mehr da. Wir stehen wieder dort, wo ich 1990 angefangen habe.“
Seit geraumer Zeit war es ruhig um Wolke geworden. Zuletzt kämpfte der Beckenbauer des Boxsports gegen gesundheitliche Malaisen. Sein bis zur Selbstzerstörung neigender Ehrgeiz werde ihn bis ins Grab verfolgen, beteuerte er einst. Das „Box-Genie“, wie Maske seinen Trainer betitelte, ist am 29. Mai im Alter von 81 Jahren nach langer Krankheit in seiner Heimatstadt an der Oder im Kreise seiner Familie gestorben.
Von Gunnar Meinhardt
Buch Veröffentlichungen von Gunnar Meinhardt
Mitautor der Olympiabücher von 2000, 2002, 2004, 2006, 2008, 2010, 2012 und 2014.
Ready to rumble: Boxboom Deutschland. Gunnar Meinhardt im Gespräch mit den Stars. Neues Leben 2013.
Einwürfe. Über Fußball, die Welt und das Leben in Gesprächen mit Gunnar Meinhardt. Neues Leben 2015.
GOAT – A Tribute to Muhammad Ali. Taschen Verlag 2004.
4 Sterne – 111 Jahre. Jahrhundert-Chronik über Bayern München, 2011.
Drei Sterne – Mehr geht nicht. Neues Leben 2022
…. und zudem ist Gunnar Meinhardt ein guter und langjähriger Freund unseres Boxen1 Chefredakteurs Ebby Thust.
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