Der Hamburger Artem Harutyunyan steht vor der historischen WM-Chance in den USA. Ein Sieg wäre die Vollendung einer Weltkarriere.
Nur noch wenige Tage bis zum mit Spannung erwarteten Showdown um die WBC-Krone im Leichtgewicht. Promotergigant Top Rank lädt zum großen Kampfabend ins Prudential Center in Newark, New Jersey, ein. Geplant sind zwei große Weltmeisterschaftskämpfe, die ESPN übertragen wird. Top Rank wird von Bob Arum geführt, einem 92-Jährigen, der seit 1971 fleißig Boxveranstaltungen auf die Beine stellt. Schon zu den großen Zeiten von Muhammad Ali war Arum tätig, seine Veranstaltungen gehen um die Welt.
Nun könnte man also meinen, dass solch ein großes Event durchaus zur Normalität in den USA gehört. Das mag vielleicht stimmen, doch aus deutscher Perspektive ist dies absolut nicht der Fall. Ein Hamburger wird am Samstag im Hauptkampf um die große WBC-Weltmeisterschaft kämpfen und Geschichte schreiben. WM-Chancen für deutsche Boxer gab es in der Vergangenheit nur selten, genutzt hat sie hingegen fast niemand. Entsprechend groß ist die Herausforderung, aber enorm auch der Stellenwert des Kampfes.
Geschichtliche Einordnung des Kampfes
Nur die wenigsten Leser werden den Mann von oben noch persönlich kennen. Es handelt sich um den legendären deutschen Sportler Max Schmeling (56-10-4), der es tatsächlich als letzter Deutscher geschafft hat, in den USA einen Weltmeisterschaftskampf zu gewinnen. Im Juni 1930 traf die Legende im Yankee Stadium in der Bronx auf Jack Sharkey (37-13-3). Den Kampf verfolgten offiziell 79.222 Menschen vor Ort und sahen eine Disqualifikation für Sharkey in Runde 4, wodurch Schmeling bis heute in die Annalen der Sporthistorie einging. Zwei Jahre darauf verlor Schmeling den Titel, doch die Geschichte ist bekanntlich nicht zu Ende erzählt worden.
Seinen ruhmreichsten Erfolg konnte er im Juni 1936 gegen den damals als unschlagbar geltenden Joe Louis (66-3) einfahren. Pikant hierbei, es handelte sich damals lediglich um einen WM-Ausscheidungskampf. Als sich beide Männer zwei Jahre später, im Juni 1938, dann im Rematch um die Weltmeisterschaft gegenübertraten, verlor Schmeling schon nach 124 Sekunden. Seitdem hat sich nichts daran geändert: Schmeling war der letzte deutsche Boxer, der es in den USA geschafft hat, Weltmeister zu werden. Bis heute spricht man stolz vom einstigen deutschen Weltklasseboxer, der selbst in Übersee Anerkennung und Bewunderung für seine Leistung erhielt. Doch er sollte nicht der einzige sein, der sich dort versucht hat.
Von Axel Schulz über Marco Huck zu Vincenzo Gualtieri
Die Liste der Herausforderer in den USA ist derweil vorhanden. Die aussichtsreichste und unbefriedigendste Geschichte war sicherlich die von Axel Schulz (26-5-1), der im April 1995 um die Schwergewichtsweltmeisterschaft gegen George Foreman (76-5) in Las Vegas antrat. Schulz lieferte die Performance seines Lebens ab und wurde dennoch nicht mit dem Sieg belohnt. Das kommt bei der Herausforderung in den USA noch hinzu: Es genügt nicht nur, gegen Weltklassemänner zu bestehen, man kämpft zugleich noch gegen die Punktrichter. Eine Konstellation, die zwangsläufig nicht zum Erfolg führt.
Zumeist verloren die deutschen Athleten allerdings wegen Unterlegenheit. Der Ex-Weltmeister Marco Huck (43-5-1) stellte sich ebenfalls im Prudential Center, kam jedoch mit dem Weltmeisterschaftsgürtel im Gepäck dort an. Dies half ebenfalls nicht; in einem packenden Kampf wurde er vom Polen Krzysztof Glowacki (32-4) im August 2015 gestoppt. Zudem versuchte sich im Februar 2020 Vincent Feigenbutz (36-3), der jedoch chancenlos von Caleb Plant (22-2) gestoppt wurde. Zuletzt reiste Deutschlands letzter Weltmeister Vincenzo Gualtieri (22-1-1) nach Texas, wo er im großen Titelvereinigungskampf im vergangenen Oktober keine sechs Runden gegen den Kasachen Zhanibek Alimkhanuly (15-0) durchstand.
Sonderlich erfolgreich lief es also in den letzten 90 Jahren für deutsche Boxer in den USA nicht mehr. Dennoch wird sich am Samstag eine erneute Gelegenheit auftun, damit dieser Meilenstein eines Erfolgs erreicht wird. Die Aufgabe ist enorm, doch die Bedeutung des Sieges wäre entsprechend etwas Historisches.
Janibek Alimkhanuly becomes the unified IBF & WBO middleweight champion with a sixth round stoppage over Vincenzo Gualtieri.#AlimkhanulyGualtieri
pic.twitter.com/BEjRGYsl8a— 𝑲𝒏𝒐𝒄𝒌𝒐𝒖𝒕 𝑱𝒐𝒖𝒓𝒏𝒂𝒍𝒔 (@KOJournals) October 15, 2023
Vom Olympiamedaillengewinner zum großen Weltmeister?
Deutscher Olympiaheld wechselt in das Profilager und unterschreibt bei Universum
Fantastische Leistung gegen Frank Martin beeindruckt die Boxwelt
Im vergangenen Jahr traf Harutyunyan auf den Rising Star Frank Martin (18-1) in Las Vegas. Martin galt vor dem Kampf als großer Favorit und wurde als ein mögliches nächstes großes Ding im Boxen angesehen. Der Deutsche Harutyunyan war hingegen der breiten Öffentlichkeit nicht sonderlich geläufig, doch Experten erkannten beim Olympiamedaillengewinner sofort dessen großes Potenzial. Im Kampf selbst zeigte Harutyunyan dann sofort, dass er jene Fähigkeiten auch bis heute nicht verlernt hat. Schnell setzte er immer wieder mit harten Körpertreffern Martin zu, der sich technisch und beweglich nicht entfalten konnte an diesem Abend. Nach dem Kampf sprach Martin davon, dass er mit dem unorthodoxen Boxstil seines Kontrahenten nicht zurechtkam.
In Las Vegas bahnte sich eine Überraschung an, und die Ecke von Martin wurde von Runde zu Runde nervöser. Sie forderten ihn leidenschaftlich und teilweise flehend auf, dass er nun endlich etwas unternehmen müsse! Und Martin kam noch einmal in der Endphase stark auf. Ein Auge von Harutyunyan schwoll an, und er musste in der letzten Runde sogar noch ein Knie nehmen, was als Niederschlag zählte. Am Ende wurde der Sieg hauchdünn Martin zugesprochen, doch kaum jemand hätte vor dem Kampf geglaubt, dass er mit dem „deutschen No-Name“ so viele Probleme haben würde. Es war eine enorm starke Performance des Hamburgers, der zeigte, dass er auch bei den Profis mit der absoluten Weltklasse mithalten kann.
Shakur Stevenson – die umstrittene Weltklasse
Harutyunyan fordert am Samstag nun den WBC-Weltmeister Shakur Stevenson (21-0) im Leichtgewicht heraus. Stevenson ist ungeschlagen und gilt als ein P4P-Anwärter. 2021 wurde er Weltmeister im Superfedergewicht und konnte dort ein Jahr später zwei WM-Gürtel vereinen. Daraufhin wechselte er im vergangenen Jahr ins Leichtgewicht, wo er den guten Japaner Shuichiro Yoshino (17-1) beeindruckend nach 6 Runden besiegte. Stevenson ist von der Leistungsfähigkeit absolut ein P4P-Kandidat, der enorm flink ist und über starke Eigenschaften verfügt. Allerdings hat er das Manko, dass er als Langweiler verschrien ist. Im Profiboxen genügt es nicht nur, Siege einzufahren, sie müssen zugleich unterhaltsam für die Zuschauer sein, damit sie für einen weiteren Kampf einschalten oder gar ein PPV bezahlen.
Im November 2023 wurde Stevenson dann auch im Leichtgewicht Weltmeister, als er Edwin De Los Santos (16-2) knapp nach Punkten bezwang. Dieser Kampf könnte exemplarisch für die Kritik an Stevenson stehen. Beide Boxer brachten es in 12 Runden tatsächlich hin, lediglich laut Compubox-Statistik 105 Treffer zu verzeichnen. Das war ein historischer Negativwert. Es gab lediglich den Fall zwischen Guillermo Rigondeaux (22-3) und John Riel Casimero (33-4-1) aus dem Jahr 2021, wo diese Zahl mit 91 Treffern nochmals unterboten wurde, aber Stevenson kam sehr nahe an diesen Negativbestwert heran. Zugleich boten zumindest Rigondeaux und Casimero 69 Powerpunches, bei Stevenson und De Los Santos waren es kümmerliche 33 Powerpunches in 12 Runden. Das ist eine absolute Vollkatastrophe, wodurch dieser Kampf als einer der langweiligsten WM-Kämpfe aller Zeiten gilt.
Stevenson muss überzeugend gewinnen
Wenn man so will, ist Stevenson ein Mann der Extreme. Er liefert teilweise die schwächsten Punch-Statistiken der Geschichte ab, hat zugleich aber auch die besten Statistiken aller Boxer. Er übertrifft die Trefferanzahl seiner Gegner um über 20,3 Treffer pro Runde. Crawford liegt hingegen bei 12,4, Naoya Inoue bei 14,2. Nun liegt das natürlich auch maßgeblich an den herausgeforderten Gegnern, aber dennoch zeigt Stevenson damit eindrucksvoll, dass er sehr dominant agiert. Er weist eine außergewöhnliche Defensive auf, bei der er im Schnitt nur 13,3 % der Schläge kassiert. Lediglich Bivol hat einen besseren Wert vorzuweisen. Wenn es um die Powerpunches geht, liegt Stevenson bei unglaublichen 16,7 % – Bivol als zweitbester Boxer P4P liegt derweil bei 21,9 %.
Insbesondere die Defensivwerte von Stevenson sind absoluter Elite-Topwert und lassen ihn somit zur einsamen Spitze avancieren. Doch Boxfans schalten nicht ein, um jemanden durch den Ring rennen zu sehen – sie wollen gute Aktionen und harte KOs sehen. Und dem wird sich Stevenson nun messen lassen müssen. Es genügt nicht, dass er Harutyunyan am Samstag irgendwie flitzend bezwingt – er muss es überzeugend tun, damit die Zuschauer ihn nicht mehr als langweilig kämpfenden Boxer in Erinnerung behalten.
Artem Harutyunyan (12-1) 🇩🇪 is in Las Vegas, preparing for the world title fight against Shakur Stevenson (21-0) 🇺🇸. On July 6, he will chase the elusive rabbit and crown himself the new WBC lightweight champion 👑. pic.twitter.com/Q2YAFplRlz
— Permante (@PermantexG) June 18, 2024
Wie wird der Kampf verlaufen?
Eine Prognose zum Kampf fällt nicht leicht. Die Buchmacher sehen Stevenson sehr eindeutig vorne, aber davon musste man ausgehen. Er ist der Weltmeister, der nebenbei auch über eine fantastische Amateurkarriere verfügt. Harutyunyan holte Bronze in Rio, Stevenson Silber. Zugleich boxt er auf der Veranstaltung seines Promoters, wodurch man auf den Scorecards nicht zwingend von fairen Resultaten für den Auswärtsboxer ausgehen kann.
Am Ende wird es maßgeblich entscheidend sein, wie sich Stevenson im Kampf präsentiert. Harutyunyan muss den Vorwärtskampf konsequent suchen als Herausforderer. Im Grunde kann er sich an der Taktik des Martin-Kampfs orientieren, der in der Herangehensweise ähnlich verlief. Die Frage ist nun, ob sich Stevenson auch dem Schlagabtausch stellt und dem Publikum somit etwas Action bietet, oder ob er wirklich wieder 12 Runden lang sehr negativ und defensiv boxt. Letzteres wäre vermutlich eher kontraproduktiv für Harutyunyan, aber zugleich auch nichts, was Stevenson weiterhilft. Dieser muss offensive Akzente setzen und im Quervergleich mit Frank Martin glänzen. Martin hatte massive Schwierigkeiten mit dem Deutschen und gewann hauchdünn einen 50/50-Kampf, von Stevenson wird erwartet, dass er überzeugend gewinnt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er deutlich stärker als Martin eingeschätzt wird.
Deutsche Übertragung bleibt offen
Ungeachtet des eigentlichen Ausgangs des großen Weltmeisterschaftskampfs kann man Artem natürlich nur sämtlichen Erfolg dieser Welt für Samstag wünschen. Es ist eine große Chance, die er vorfindet. Es wäre zugleich auch die Vollendung eines außergewöhnlichen boxerischen Werdegangs. Olympiamedaillensieger und Weltmeister in den USA – damit stiege der Hamburger zu den ganz großen deutschen Boxern der Geschichte auf und würde für Ewigkeiten in Erinnerung bleiben.
Entsprechend kann man allen deutschen Boxsportfreunden nur ans Herz legen, den großartigen Kampf am Sonntagmorgen gegen 5 Uhr wirklich live zu verfolgen. Hierbei sei erwähnt, dass es noch keine Übertragung dazu gibt. In den nächsten 24 Stunden sollte sich diese Frage jedoch geklärt haben, und Boxen1 wird selbstverständlich die Übertragungssituation auch nachreichen.